Der Unterschied zwischen Produkt einerseits und Gerät oder Bauteil andererseits
Die Produktionsfirmen stellen Geräte oder Bauteile her; auf dem Markt stehen sich jedoch Produkte gegenüber.
Mit „Gerät" ist hier nur das technische Bauteil gemeint. Dies kann zum Beispiel eine integrierte Schaltung sein oder eine Bohrmaschine. Mit „Produkt" ist mit das gesamte Umfeld gemeint, angefangen mit der Bedienungsanleitung und dem Training, über das Bedienungskonzept, das Zusatzangebot, die Beschaffungsmöglichkeiten, die Hilfen zur Auswahl möglicher Varianten, bis hin zum Service und - je nach Art des Produktes und Branche - noch vieles mehr. Dieser Unterschied ist durchaus relevant, da es immer wieder geschieht, dass Firmen mit Geräten oder Bauteilen in den Markt gehen, die sie für überlegen halten. Diese Unternehmen erleben mitunter eine böse Überraschung, wenn sie erkennen müssen, dass die Produkte ihrer Wettbewerber, trotz der schlechteren Eigenschaften der einzelnen Geräte/Bauteile gegenüber ihren eigenen vorgezogen werden. Wenn die Anbieter diesen Unterschied nicht erkennen, dann werden sie nicht verstehen, warum ihnen größere Marktanteile entgehen. Dieses Verständnis ist bei der Vermarktung gerade von technischen Produkten (aber nicht nur dort) wichtig, da man damit das Produkt anders positionieren kann.
Die Bedeutung dieses Unterschieds zwischen Produkt und Gerät/Bauteil wurde in den 80er Jahren von William H. Davidow erkannt. Davidow war damals Vertriebsleiter bei der Mikroprozessorschmiede Intel. Mikroprozessoren sind das zentrale Herzstück von Computern, das die Befehle ausführt, mithin ein zentrales elektronisches Bauteil. Damals waren 16-Bit Mikroprozessoren die technisch modernsten Mikroprozessoren. Die Mikroprozessorschmiede Intel hatte mit dem 16-Bit 8086 einen Prozessor, der gegen den 16-Bit 68000 Mikroprozessor von Motorola konkurrierte.
Die 68000 Mikroprozessoren von Motorola galten unter Fachleuten unumstritten als das Nonplusultra der Mikroprozessoren. So war es wenig verwunderlich, dass der 68000 erste Wahl für die meisten neuen Designs war, und nicht der Intel-Mikroprozessor 8086. Auch der erste Apple Macintosh hatte zum Beispiel einen Motorola 68000 Mikroprozessor. Angesichts der Überlegenheit des Konkurrenten war die Ratlosigkeit in der Vertriebsmannschaft von Intel groß.
W.H. Davidow stellte fest, dass Motorola mit dem 68000 zwar den besseren Mikroprozessor hatte, aber trotzdem das schlechtere Produkt gegenüber den Intel 8086
In einer Analyse der Ursachen stelle Davidow fest, dass Motorola mit dem 68000 zwar den besseren Mikroprozessor hatte, aber trotzdem das schlechtere Produkt gegenüber den 8086 von Intel. Intel bot für den Prozessor 8086 eine weit größere Anzahl an Erweiterungsbausteinen an, um zum Beispiel Schnittstellen, Displays, Tastaturen, Speicher, Diskettenlaufwerke oder Harddisks anzusteuern. Intel hatte ein gutes Entwicklungssystem im Portfolio, auf dessen Grundlage die Software für den Prozessor entwickelt werden konnte, einschließlich effektiver Assembler- und Compiler-Programme, die den Quellcode der Programme in den Code zum Ansteuern des Prozessors umwandeln. Mit dem Entwicklungssystem konnte die Software direkt im Zielsystem getestet werden. Intel hatte zudem ein gutes Angebot von Schulungen in petto, um die Entwickler rasch mit dem neuen Prozessor technisch vertraut zu machen.
So wurde im Marketing nicht mehr nur der Prozessor beworben, sondern die gesamte mit angebotene Peripherie und Entwicklungs-Unterstützung. Die Intel-Vertriebsmannschaft wurde darauf eingeschworen, das Produkt mit all dem Beiwerk als gesamtes Angebot hervorzuheben. Die Entwickler konnten mit dem Intel-Mikroprozessor in der Tat auf ein erheblich größeres Angebot von Unterstützung sowohl bei der Hardware- als auch zur Softwareentwicklung zurückgreifen. Dank dieser Unterstützung ließen sich Projekte schneller umsetzen.
Im Unterschied zum Bauteil Mikroprozessor gehören zu dem Produkt Mikroprozessor auch noch die weiteren angebotenen Bauteile und die gesamte Entwicklungsunterstützung
Intel bot seiner ganzen Vertriebsmannschaft eine einwöchige Reise in die Karibik an, wenn es ihr gelang, im laufenden Jahr noch in mindestens 1000 neue Entwicklungsprojekte zu gelangen. Die Stimmung des Vertriebs war danach wieder auf offensives Vorgehen eingestellt. Das Ziel, 1000 Entwicklungsprojekte mit dem Intel 8086 auszurüsten, wurde mehr als übertroffen, und die Vertriebsmannschaft feierte den Erfolg mit einigen rauschenden Tagen in der Karibik. Danach setzte auch IBM die Prozessoren der 8086-Familie in ihre ersten PC ein. Heute sind die um Größenordnungen leistungsfähigeren Intel-Prozessoren immer noch mit den damaligen Prozessoren beim Programmiercode aufwärtskompatibel. Der Motorola-Prozessor hingegen hat heute keine wesentliche Bedeutung mehr.
Betrachten wir ein auf dem ersten Blick simples Bauteil wie eine Schraube. Inzwischen gibt es ein riesiges Angebot von Schrauben, die sich durch den Werkstoff (Stahl, Edelstrahl oder Messing), durch die Längen, durch verschiedenste Geometrie (Zylinder-, Linsen- oder Senkkopfschraube oder auch Schlitz-, Kreuzschlitz-, Imbus- und viele weitere Werkzeug-Geometrien) unterscheiden. Die Anzahl der Bits für die Werkzeuge ist kaum noch zu überschauen. Dazu kommen noch selbstschneidende, metrische Gewinde oder Feingewinde und vieles mehr. Zu dem Produkt Schraube gehören neben der Schraube selbst die Übersicht und die einfache Auswahl der richtigen Schrauben mit den passenden technischen Daten für die Anwendungsfälle, aber auch eine schnelle Auswahl der passenden Ersatzschraube im Reparaturfall. Wie schnell ist die Schraube beschaffbar? Ist das richtige Werkzeug vorhanden und schnell beschaffbar? Ist ein passendes Bit schnell verfügbar? Welche Unterstützung der Lieferanten gibt es zum Beispiel am Telefon? Gibt es eine CAD-Zeichnung im Download? Das Produkt Schraube umfasst weit mehr als das reine Bauteil.
Diese Vorgehensweise ermöglicht eine weit bessere Positionierung, indem man das gesamte Portfolio rund das Gerät oder Bauteil mit anbietet oder zumindest mit ins Feld führt. Hier können nicht nur eigene Produkte, sondern auch ergänzende Produkte von Drittanbietern eine Rolle spielen. Ob man diese selbst weiterverkauft oder auf andere externe Quellen hinweist, hängt vom jeweiligen Produkt- und Marketingkonzept ab.
Das Prinzip kann noch weiter gefasst werden; selbst auf den Bereich der Dienstleistungen trifft es zu. So gehören zum Betreiben einer Bahnlinie neben ihrem Kernbereich, dem Transport, weitere Dienstleistungen: Wie ist der Fahrplan gestaltet und abgestimmt? Wie wird der Fahrplan kommuniziert und angezeigt? Werden auch in den Zügen Wartezeiten und Stationen angezeigt? Welcher Service wird im Zug noch angeboten? Wie kann gebucht und umgebucht werden? Gibt es auch Komplettreiseangebote zusammen mit der Zugfahrt oder ein Zusatzangebot für Hotel, Mietwagen vom Bahnhof und Parkmöglichkeiten?
Zum Produkt kann auch ein komplettes, mit einem oder mehreren Geräten verbundenes Geschäftsmodell gehören. Apple hatte zu Beginn zu seinem iPod den iTunes zum kostenpflichtigen Download von Musikdateien angeboten. Später wurden die Downloadmöglichkeiten noch weiter ausgebaut. Heute können auch von Anbietern anderer Betriebssysteme, wie zum Beispiel Android, Apps und noch viel mehr geladen werden. Die Erweiterung eines Gerätes zu einem Gesamtprodukt kann auch, konsequent zu Ende gedacht, zu einer Erweiterung des Geschäftsmodells führen.
Der Innovationsmanager sollte immer das gesamtes Produkt im Blickfeld behalten und es im Rahmen des Geschäftmodells betrachten
Analysieren Sie, welche Zusatzfunktionen und Zusatzangebote im Rahmen der von Ihnen angebotenen Geräte/Bauteile sinnvoll sind, um ein besseres Gesamtprodukt anzubieten! Dies kann je nach Branche und Produkt sehr unterschiedlich sein.
Welcher Zusatznutzen kann noch geboten werden und ist für die Kunden relevant?
Was bieten die Wettbewerber zusätzlich an? Wie können Sie das beste Produkt anbieten? Wie geht der Anwender mit dem Produkt um? Wo hat er eventuell noch Probleme, für die Lösungen angeboten werden können? Wie kann man ihm das Leben dabei leichter machen? Ist ein „Rundum-Sorglos-Paket" möglich?
Was ist der eigentliche Sinn des Produktes, welchen Nutzen soll es bieten?
Kann man dem Kunden auch Contents (Inhalte) mit anbieten?
Ein informativer Katalog (in Papierform oder im Internet), der die passende Auswahl leicht macht und alle wichtigen Details gut beschreibt, gegebenenfalls auch noch mit einer Einführung in die technischen Grundlagen – all dies gehört auch zu einem Produkt.
Ist es einfach für den Kunden, das richtige Teil, die richtige Konfiguration auszuwählen? Wie muss eine gute Hilfe bei der Auswahl des Zubehörs aussehen?
Kann Zubehör und Verbrauchsmaterial ein überzeugendes Gesamtangebot bieten?
Welche Kundenkontaktpunkte gibt es? Wie ist die Kundenunterstützung organisiert?
Wie ist es mit Schulung, Service und Kundenfragen zum Produkt bestellt?
Wie kann der angesprochene Kunde das Produkt als überlegen empfinden?
Was kann alles zum Produkt gehören?
- Bedienungsanleitungen, Montageanleitung, Manual zum Schnelleinstieg.
- Unterstützung in vielen Sprachen.
- Gut unterstützende Hilfefunktionen.
- Die verwendeten branchenüblichen Namen, Begriffe und Sprachregelungen.
- Knowledge-Base im Internet.
- Art der Beratung vor, bei und nach dem Kauf.
- Wie kann das Richtige einfach bestellt werden?
- Netzwerke von Anwendern, Anwender-Foren im Internet.
- Vereine, Institute, Anwendertreffen, die sich den Einsatz und die Verbreitung der Produkte zum Ziel gesetzt haben.
- Alle Zusatzteile, Zusatzgeräte, ergänzenden Produkte.
- Eine Bauteil- bzw. Gerätefamilie, die sich bei verschiedenen Anwendungen ergänzt (z.B. mit gleichem und kompatiblem Bedienungskonzept).
- Adapter (für andere Normen, Standards oder Länder …).
- Protokolle, Interfaces, Anschlussmöglichkeiten.
- Ein Fanclub oder Förderverein zur Schulung und Verbreitung der Technologie.
- Buch mit Beispielen, die beschreiben und erklären (zum Beispiel ein „Kochbuch“).
- Eine Produktzeitschrift oder Internetseite mit neuesten Informationen.
- Videos, die die Anwendung vorführen. Die Logistik zur Versorgung vor Ort.
- Die Abnahmen und Zertifikate, die aussagen und bestätigen, welche Normen und Vorschriften eingehalten werden.
- Beispielhafte Geschichten darüber, was andere mit dem Produkt gemacht haben, was alles möglich ist.
- In der Technik: Applikationsberichte, Beispielprogramme, Treiber, DLL, Bibliotheken.
- Ersatzteilversorgung einschließlich einer einfachen Erkennung und Identifizierung der Bezeichnung des richtigen Ersatzteils.
- Gewährleistung einer Ersatzteil- und Verbrauchsmaterialversorgung über den ganzen Produktlebenszyklus Die Entsorgung am Ende der Lebensdauer.
(je nach Gerät oder Branche treffen nicht alle Punkte zu oder gibt es weitere Möglichkeiten)
Literatur:
William H. Davidow, „Marketing High Technology, An Insider's View" The Free Press
Armin Töpfer / Tom Sommerlatte, „Technologie-Marketing", verlag moderne industrie
Tim Jackson, „Inside Intel", Hoffman und Campe
© 2015 Wolfgang Krebs, Berlin. Alle Rechte vorbehalten, Kopie, Reproduktion auch Auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors. Letzte Änderung am 20.1.2015.